Hintergrund von „Willkommen und Abschied“
Goethe führte als 21-Jähriger eine etwa eineinhalbjährige, intensive Beziehung zur Pfarrerstochter Friederike Brion aus Sessenheim (bei Straßburg). Später entschied sich Goethe für den Abbruch der Beziehung, weil sie nicht dem gesellschaftlichen Stand entsprach, aus dem Goethe stammte. Die Verliebtheit Goethes, seine wechselhaften Höhen und Tiefen, werden in den Gedichten aus seiner Sturm- und Drang-Zeit deutlich und werden später unter dem Titel „Sessenheimer Lieder“ publiziert.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die spätere Fassung des Gedichts „Willkommen und Abschied“ von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahr 1785 ist Bestandteil der Sesenheimer Lieder, welche eine Facette der literarischen Epoche des Sturm und Drang darstellt. Hingerissen von der Liebe zu der Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion, beschreibt Goethe in seinem Gedicht den nächtlichen Ritt des lyrischen Ichs, das in der Vergangenheitsform von einem Treffen mit seiner Geliebten erzählt. Somit spiegelt dieser Text genau die neue Maxime in der Dichtung des Sturm und Drang wieder, zu der Goethe während seines Aufenthaltes in Strasbourg 1770/71 gefunden hatte: Die Fähigkeit, Empfindungen auszudrücken, welche im Widerspruch mit dem Rationalismus in der Epoche der Aufklärung steht.
Im Folgenden wird das vorliegende Gedicht mit Hilfe von einer inhaltlichen, formalen und sprachlich-stilistischen Analyse erschlossen, um abschließend die Fragestellung zu klären, inwiefern Goethes Gedicht als Programmgedicht des Sturms und Drang unter Beachtung des Ausdrucks des subjektiven Erlebens bezeichnet werden kann.
Das Gedicht ist aus der Perspektive eines Jünglings geschrieben, der impulsiv und emotional die beängstigende nächtliche Landschaft beschreibt, durch die er reitet. Trotzdem empfindet das lyrische Ich bereits in der zweiten Strophe eine starke Vorfreude. In der dritten Strophe ist der Jüngling ganz und gar überwältigt von seiner Geliebten, die ihn bereits sehnsüchtig erwartet hatte. Das lyrische Ich ist derartig euphorisch, dass es sogar den Göttern dankt. Dann bewegt sich die Situation in der vierten Strophe in Richtung – wie der Titel bereits postuliert - Abschied, wobei die Geliebte ihrem Jüngling „mit nassem Blick“ (V.30) hinten nachschaut. Trotz dieses großen Liebeskummers überwiegt die Freude an der Liebe im lyrischen Ich.
Das vierstrophige, durchgehend im Kreuzreim stehende Liebeslied entspricht der damals gängigen Lyrik. Da die Strophen je aus acht Versen bestehen, herrscht eine gewisse Ordnung und widerspricht somit dem Aufbrechen der gängigen Ordnung in der Epoche des Sturms und Drang. Doch weil dieses Gedicht von den subjektiven Erlebnissen des lyrischen Ichs ausgeht und ebenso von einer unmittelbaren Gefühlssprache geprägt ist, unterstützt eben diese Erlebnislyrik einen starken emotionalen Grundtenor, der auf die Epoche des Sturm und Drang verweist.
Der Ritt des lyrischen Ichs wird durch die Personifikationen1 „Der Abend wiegte schon die Erde“ (V. 4) und „Schon stand im Nebelkleid die Eiche, ein aufgetürmter Riese, da“ (V. 5-6) veranschaulicht. Außerdem wird bereits bei der Metapher2 „Wo Finsternis aus dem Gesträuche mit hundert schwarzen Augen sah“ (V. 7-8) deutlich, dass sich die beiden Geliebten nur heimlich treffen können. In der zweiten Strophe skizziert das lyrische Ich auch wieder die nächtliche Umgebung, die für ihn eine schaurige Atmosphäre schafft. Der Wind „umsaust schauerlich” sein Ohr (Vers 12), während „die Nacht tausend Ungeheuer schuf” (Vers 13). So werden die ersten beiden Strophen des Gedichts von Wörtern aus dem Wortfeld „Dunkelheit“ und „Furcht“ beherrscht, wobei die Alliteration3 „Doch frisch und fröhlich war mein Mut“ (V.14) und die Anapher4 „In meinen Adern welches Feuer! In meinem Herzen welche Glut!“ (V. 15-16) den Eindruck der Vorfreude auf das Treffen und Leidenschaft zur Geliebten verstärken. Daraufhin beherrscht nun das Wortfeld „Liebe“ – ein Schlüsselbegriff der gefühlsbetonten Lyrik – eindeutig die dritte Strophe mit Begriffen wie „Freude“ (V. 17), „Herz“ (V. 19) und „Zärtlichkeit“ (V.23). Ebenso vermittelt die Metapher „Ein rosenfarbnes Frühlingswetter umgab das liebliche Gesicht“ die positiven Empfindungen des Jünglings, welche er zu seiner Geliebten verspürt. Dazu kommt der Ausruf „Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter! Ich hofft‘ es, ich verdient‘ es nicht“ (V.23-24), der die Euphorie des lyrischen Ichs zu lieben ausdrückt. Nun rückt der „Abschied“ (V.26) mit der „Morgensonne“ (V. 25) in der vierten Strophe näher. Der Liebesschmerz, den das lyrische Ich nun empfindet, wird durch die Anapher „In deinen Küssen welche Wonne! In deinem Auge welcher Schmerz!“ (V. 27-28) hervorgehoben. Jedoch überwiegt die Freude an der Liebe, trotz des schmerzvollen Abschieds, was aus dem Ausruf „Und doch, welch Glück, geliebt zu werden und lieben, Götter welch ein Glück!“ klar hervorgeht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gedicht inhaltlich, formal und sprachlich-stilistisch eindeutig der Epoche des Sturm und Drang zuzuordnen ist.
Formal verweist die feste Strophen- und Reimordnung zwar nicht auf das Aufbegehren gegen die gängige Ordnung in der Epoche des Sturm und Drang, doch sie ist Bestandteil der Erlebnislyrik, deren Entstehung aber in die Zeit der Sturm und Drang, bei den Sesenheimer Liedern, einer Facette dieser Epoche, angesiedelt werden muss. Diese Art der Lyrik bedient sich gerne der Natur als Mittel zur Darstellung des Gemütszustandes der Hauptperson. So unterstützt der dynamische Rhythmus und die Häufung von Ausrufen in diesem Text, die durchdringende Emotionalität und unmittelbare Gefühlssprache des lyrischen Ichs. Das bereits angeführte Wortfeld „Liebe“ und die damit zusammenhängenden Nomen wie „Herz“ sind Schlüsselbegriffe dieser subjektiven Erlebnisse und Empfindungen, die im Gegensatz zum Rationalismus der Aufklärung stehen.
Somit kann und muss Goethes „Willkommen und Abschied“ als Programmgedicht des Sturm und Drang gelesen werden.