Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Im chronologisch geordneten Schaffen Johann Wolfgang von Goethes findet sich um etwa 1780 eine Interphase zwischen zwei Epochen: dem Sturm und Drang und der Weimarer Klassik. Etwa in dieser Zeit entstand das Gedicht „Grenzen der Menschheit“, das bereits deutlich die Merkmale eines lyrischen Werks aus der Zeit letztgenannter literarischer Epoche aufweist, nicht zuletzt in Form der zu vermittelnden Botschaft.
„Grenzen der Menschheit“ handelt in seiner Ganzheit vom Verhältnis der Menschheit zum Göttlichen, mit besonderer Beachtung des für Menschen angebrachten Verhaltens gegenüber dieser höhergestellten Kraft.
Zwar handelt das Gedicht vom richtigen Verhalten gegenüber göttlichen Wesen, doch wird Goethe nie deutlich im Bezug darauf, welchen Gott er meint – er nennt im gleichen Atemzug den uralten heiligen Vater (vgl. Z. 1 f) der christlichen Bibel, der allerdings auch als Zeus interpretiert werden könnte, und nimmt, um das zu verdeutlichen, mit der Allegorese des Blitzes (vgl. Z. 5) Bezug auf Zeus als Repräsentant des antiken griechischen Polytheismus. Das Göttliche, welche Glaubensrichtung auch immer sie nun dominieren mag, ist zwar nach wie vor eine zerstörerische Kraft, denn sie sät „Blitze über die Erde“ (Z. 5 f); allerdings wird diese Zerstörungskraft als Segen angesehen (vgl. Z. 5), gerade weil die Blitze göttlicher Herkunft sind. Dadurch, dass das lyrische Ich ehrfürchtig „den letzten Saum seines Kleides“ (Z. 7 f) küsst, wird die bereits angedeutete zentrale These noch verdeutlicht: der Mensch hat dem Gott ehrerbietig gegenüberzustehen, ganz gleich, was
dieser tun mag.
„Denn mit Göttern soll sich nicht messen irgend ein Mensch“ (Z. 11 ff) steht als Weiterführung der These und nicht zuletzt als expliziter Appell am Beginn einer Argumentationskette gegen die Fantasie, die den Menschen zu Wünschen verleitet, die er nicht haben sollte. Berührt der Mensch nämlich doch mit dem „Scheitel die Sterne“ (Z. 16), so wird er sich in einer Schwebesituation befinden, in der seine „unsichern Sohlen“ (Z. 18) nirgends mehr terra firma finden, in der „Wolken und Winde“ (Z. 20) mit ihm spielen können, ohne dass er dies beeinflussen könnte. Die Sterne stehen für das Himmelsfirmament und damit für die Domäne der Götter, die für Menschen unerreichbar ist. Der Scheitel ist das Zentrum des menschlichen Denkens, aus dem heraus auch der Wunsch entsteht, sich durch das Erreichen der Sterne mit den Göttern gleichzusetzen – hier erkennt man Züge der Hybris, die im Sturm und Drang eine noch viel größere Rolle spielt als in der Übergangs
zeit. Die Sohle hingegen bildet den Gegenpol zum Scheitel und repräsentiert die bodenständige Vernunft. Steht sie allerdings nicht mehr fest auf dem Boden, da der Wunsch, sich mit dem Göttlichen zu messen, vom Menschen Besitz ergriffen hat, kommen Wolken und Winde als Faktoren ins Spiel, die sowohl Unsicherheit als auch Unkontrollierbarkeit ausdrücken – denn sie sind einerseits wankelmütig und andererseits vom Menschen nicht zu beherrschen.
Wie die Position des Menschen zwischen den Sternen und dem festen Boden im Optimalfall sein sollte, zeigt die nächste Strophe: mit „festen, markigen Knochen“ (Z. 21 f) hat er auf dauernder Erde (vgl. Z. 24) zu stehen. Der Fantasie wird nun der Realität gegenübergestellt, und diese sieht so aus, dass sich der Mensch nicht einmal mit „der Eiche oder der Rebe“ (Z. 26 f) vergleichen kann. Aus diesem Grund ist die Erde seine Domäne, denn diese bietet ihm durch ihre Dauerhaftigkeit eine Basis: die Vernunft.
Dies hat den Grund, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen Göttern und Menschen gibt: Menschen befinden sich in einem ewigen Strom (vgl. Z. 33). Demzufolge kann eine Welle das Individuum sowohl heben als auch gänzlich verschlingen und versinken, also sterben lassen (vgl. Z. 34 ff), und von diesen Wellen gibt es „viele“ (Z. 31). Der einzelne Mensch ist klein und kann sich diesen niemals alleine entgegenstellen.
Das Fazit dieser meditatio wird durch die Gleichsetzung des Lebens mit einem kleinen Ring (vgl. Z. 37) verdeutlicht, der an eine „unendliche Kette“ (Z. 42) gereiht wird, an der bereits ganze „Geschlechter“ (Z. 39) aufgereiht sind. Der Mensch als Individuum passt in das Prinzip des pars pro toto: er ist nur ein kleiner Teil des Ganzen, die Emphatik liegt auf seiner Größe. Dementsprechend sollte er sich nicht seinen Fantasien vom unerreichbaren Berühren der Sterne, dem Gleichsetzen mit den Göttern, hingeben, sondern mit beiden Beinen auf dem Boden, seiner wahren Domäne, stehen.
Das Gedicht hat fünf Strophen, von denen die ersten beiden jeweils aus zehn, die dritte und vierte aus acht und die letzte aus sechs Versen bestehen. Ein Reimschema ist nicht erkennbar.
Auffallende sprachliche Mittel sind Aussagesätze, der hypotaktische Aufbau, häufige Verwendung von Adjektiven sowie frequente Inversionen1. Bis auf die direkte Frage „Was unterscheidet Götter von Menschen?“ (Z. 29 f), die den Leser zum Nachdenken anregen soll, finden sich ausschließlich Aussagesätze, die die Natur der Argumentationskette des Gedichts verdeutlichen. Dadurch, dass Adjektive präsenter sind als Verben, erhält das Gedicht einen ruhigen, rational-argumentativen Charakter und bewegt sich fort vom Handlungsdrang des Sturm und Drang, der durch die Häufung von Verben erreicht worden wäre. Der hypotaktische Aufbau sowie die Inversionen, beispielsweise zu finden in der dritten Strophe, verleihen dem Gedicht einerseits einen altmodischen, erzieherischen Beiklang, andererseits jedoch auch einen feierlichen Ton, der die im Gedicht enthaltene Warnung, sich nicht mit den Göttern gleichzusetzen, nochmals emphatisiert.
Die Thematik des Gedichtes war zum Zeitpunkt des Erscheinens aktuell und ist es auch heute noch. Aus der Unzufriedenheit heraus entsteht der menschliche Wunsch, durch das Berühren der Sterne mit dem Scheitel, wie Goethe es formuliert, ein höheres Ziel zu erreichen, von dem er sich erhofft, dass es ihn von seiner Unzufriedenheit erlösen wird. Dass er dabei allerdings schnell den Boden unter den Füßen verlieren kann, das bedenkt er nicht – und genau vor dieser Hybris warnt Goethe. Zeitlos wird die Warnung dadurch, dass es immer Unzufriedenheit geben wird und der Appell demzufolge immer Adressaten finden wird, an die er sich richten kann.