Gedicht: Fantasma (1987)
Autor/in: Günter KunertEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
Strophen: 3, Verse: 12
Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-4
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Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Fantasma“ von Günter Kunert wurde 1987 veröffentlicht. Günter Kunert lebte zu dieser Zeit in der DDR. Er veröffentliche viele Gedichte, die sich mit der Problematik des getrennten Deutschlands befassten. Inwieweit man das Gedicht „Fantasma“ in diese Reihe oder in diese Thematik einordnen kann, wird sich anhand der Analyse ergeben. Manche sehen in dem Gedicht „Fantasma“ eine Art Antwort auf ein von Gottfried Benn verfasstes Gedicht des Jahres 1948: „Berlin“ oder „Die versteppte Stadt“.
So geht es in beiden Gedichten um den Verfall einer Stadt oder allgemeiner: um die Erinnerung an etwas Untergegangenes. Kurz zusammengefasst sagt Benn, dass die Trümmer nach der Zerstörung von dem untergegangenen Volk berichten werden und dass man sich so an diese erinnern kann. Günter Kunert könnte diesen Gedanken aufgegriffen, ihn auf die Lyrik spezifiziert und ihn dann zu einem Problem geführt haben. So geht es um die ausbleibende Erinnerung oder die Sinnlosigkeit eines letzten Zeugnisses einer Zivilisation. Sinnlos deswegen, weil niemand mehr da ist, der das Gedicht lesen oder die Zeugnisse in Empfang nehmen kann. Beide Lyriker, Gottfried Benn und Günter Kunert, wurden Zeugen des 2. Weltkrieges und auch der Atomwaffenangriffe auf Japan, die von Amerika ausgingen. Die sich durch Massenvernichtungswaffen auftuende Möglichkeit einer unumkehrbaren Vernichtung könnten sich beide zum Anlass genommen haben, die Angst davor in einem Gedicht zu verarbeiten. Beide Gedichte weisen unterschiedlichste Merkmale verschiedener literarischer Stilepochen auf. Auch ein mögliches Indiz dafür, dass Kunert sich an Benns Gedicht orientiert hat, ist diese Varianz der Stilmerkmale.
Das Gedicht „Fantasma“ ist drei Strophen lang. Jede Strophe besteht aus vier Versen. Es reimen sich in jeder Strophe nur der 2. und der 4. Vers. Ein durchgängiges Metrum1 gibt es nicht. Die äußere Form ist nicht in absolute Harmonie mit diesen Eigenschaften zu bringen. D.h. der erste Eindruck von einem in sich geschlossenem, harmonischen Gedicht wird beim Lesen gestört. So könnte man fast vermuten, dass es sich bei dem Gedicht um einen Prosatext handeln würde. Dieser Text wird nur durch die sich reimenden zweiten und vierten Verse in seinem „Fluss“ gestört. Bzw. im anderen Sinne wird die lyrische Komponente von der unrhythmischen, sich nicht reimenden Komponente der Prosa gestört. Inhaltlich zieht sich durch das gesamte Gedicht die Frage, wie das „letzte Gedicht über Berlin“ (V. 1) aussehen mag. Der lyrische Sprecher wirft Fragen in den Raum, die nicht beantwortet werden und gibt auf diese Weise bestimmte Möglichkeiten für das Aussehen des Gedichtes vor.
In der dritten Strophe wird auf die Sinnlosigkeit der Frage hingewiesen. Es kommt zur Aussage, dass es egal sei, wie es aussehen möge, da dieses Gedicht keiner mehr lesen wird. Auffällig dabei ist die Benutzung der Umgangssprache in bestimmten Versen. So wird die Frage mit einem umgangssprachlichen Füllwort „wohl“ (V. 2) ergänzt, welches der Frage außerdem einen naiv-kindlichen Charakter verleiht. Es macht den Anschein, dass die Beantwortung keine Rolle spielen würde, denn es klingt nach dem typischen Fragen eines Kindes, welches sich jede Ungereimtheit sofort zum Anlass nimmt, eine Frage in den Raum zu stellen. Des Weiteren taucht im 10. Vers ein Sprichwort oder ein in der Umgangssprache benutzter Satz auf: „wär’ auch das Ende vom Lied“. Neben der Auffälligkeit der Anpassung des Wortes „wäre“ zu „wär’“, benutzt man den Spruch „das Ende vom Lied“ als Synekdoche2 dafür, dass etwas Großes zu Ende geht, welches kein Lied sein muss. Es bezieht sich auf mehrere Bereiche. Dieser Vers wirkt dadurch sehr salopp und fast scherzhaft.
Im direkten Kontrast dazu sind die besonders häufig benutzten Fremdwörter innerhalb des Gedichtes. Es fängt an mit dem Wort „Fantasma“ in der Überschrift. Günter Kunert hat sich bewusst für die falsche Rechtschreibung des Wortes entschieden. Zusammen mit den anderen Fremdwörtern, die meist aus dem Griechischen oder dem Lateinischen stammen, wirken diese deplatziert und passen zum Beispiel nicht zu der benutzten Umgangssprache. Günter Kunert benutzt Wörter, die die meisten Leser wahrscheinlich erst nach Nachlesen in einem Fremdwörterlexikon verstehen würden („Epitaph“, V. 4). Die Benutzung dieser Wörter verleihen dem Gedicht einen fast nicht ernstzunehmenden Charakter. Nahezu paradox erscheint sie im Zusammenspiel mit der Umgangssprache. Aber genau das war vielleicht im Sinne von Günter Kunert. Das Ganze sollte nur ein Trugbild sein, ein Phantasma. Etwas das nicht zusammenpasst, denn es kann kein letztes Gedicht geben. Beziehungsweise ist der Sinn desselbigen im Moment der Entstehung schon verfehlt. Auf dieses Problem wollte Kunert hinweisen und er könnte es als Antwort auf Benns Ansicht, dass es nach dem Untergang Überbleibsel, d. h. Erinnerungen geben wird, aufgegriffen haben. Wo Benn den Lesern Hoffnung machen wollte, berichtet Kunert von der Unumgänglichkeit der Zerstörung einer Zivilisation.
Dass Kunert mit allen Mitteln versucht hat, Unvereinbares zu vereinen, könnte als Persiflage3 zu Gottfrieds Benn nach dem 2. Weltkrieg entstandenen Schreibstil verstanden werden. Benn hievte die Probleme seiner Zeit wie in der Romantik auf überdimensionale Sphären, er griff Thematik der Romantik auf und kehrte in der formalen Gestaltung zu alten Schemata zurück. Doch Benns Stil strahlt Harmonie aus. Ihm gelingt es, Modernes und Klassisches zu vereinen. Günter Kunert spitzt diese Einigkeit zu. Überspitzt sie sogar, ironisiert sie mit seinem zwanghaften (paradoxen4) Durchmischen der lyrischen und prosaischen Komponenten. Vielleicht um zu zeigen, dass man nicht aus seiner Zeit entkommen kann. Wenn man in der Moderne lebt, soll man auch modern schreiben. Alles Andere wäre bloße Verstellung.