Gedicht: Schöne Jugend / Der Mund eines Mädchens (1912)
Autor/in: Gottfried BennEpoche: Expressionismus
Strophen: 1, Verse: 13
Verse pro Strophe: 1-13
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Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Gottfried Benns Gedicht Schöne Jugend wurde 1912 in der Gedichtsammlung «Morgue» veröffentlicht, die Aufsehen erregte, weil Benn darin herkömmliche Vorstellungen von Lyrik radikal in Frage stellte und schonungslos den menschlichen Körper und seinen Verfall aufdeckte. Im gleichen Jahr starb seine Mutter qualvoll an Krebs, was ihn wohl u.a. zu diesem Gedichtzyklus inspiriert hat. Das Gedicht Schöne Jugend gehört in die Epoche des Expressionismus (ca. 1910-1920). Der Begriff ‚Expressionismus‘ stammt vom lateinischen Wort expressio (Ausdruck) und bedeutet ‚Ausdruckskunst‘. Die Expressionisten lehnten sich gegen die Tradition des 19. Jahrhunderts auf, das schon lange kritisiert wurde, aber bisher nicht in einer solchen Schärfe. Sie kritisierten aktuelle Entwicklungen ihrer Zeit wie die Industrialisierung, Urbanisierung, die Zivilisation und das wilhelminische Bürgertum.
Expressionisten wendeten sich gegen bürgerliche Geschmacksnormen und einen künstlerischen Schönheitsbegriff, der die menschlichen Nachtseiten ausschloss. Dementsprechend stellten sie provozierend dar, was die wilhelminischen Bürger aus ihrem Leben ausklammerten. Expressionistische Themen waren die Großstadt, der Weltuntergang, der Krieg, der Ich-Zerfall und der Tod. Sie wollten nicht nur über Alltägliches dichten, sondern die ganze Wirklichkeit darstellen und wendeten sich hässlichen Themen zu, wie Verfall, Tod, Wahnsinn, Krankheit und Verwesung, weshalb man auch von der Ästhetik des Hässlichen spricht. Die Dichtungen Charles-Pierre Baudelaires und Arthur Rimbauds haben dies beeinflusst. Manche Dichter stellten das Hässliche dar und verschränkten es mit dem Schönen.
Traditionelle lyrische Bereiche wie die idyllische Mondpoesie wurden dabei ironisiert. Georg Heym lässt in Der Krieg sein Kriegsmonster den Mond zerdrücken. Auch die Sonne wurde häufig abgewertet, wie in Georg Trakls Grodek, wo sie verdunkelt und bedrohlich über den Himmel rollt. Es handelt sich hierbei um Spielerei, Provokation und ein Aufbegehren gegen die bürgerliche Gefühlskultur. Die Dichtersprache wurde auch zerschlagen, weil sie nicht mehr als Ausdrucksmittel der Wirklichkeit des modernen Menschen taugte.
Mehrere Dichter erwarteten eine Apokalypse und schätzten die Gesellschaft und die Lebensumstände als erstarrt und todkrank ein. Deshalb setzten sie sich viel mit dem Verfall und der Vergänglichkeit auseinander, wie Georg Trakl in seinem bekannten Gedicht Verfall. Der Verfallsvorgang wurde in vielfältigen Formen beschrieben, wobei sich fast jeder Lyriker seinen ganz eigenen Zugang zu diesem Motiv schuf. Gottfried Benn schildert den körperlichen Verfall in Texten über Krankheiten, wie in Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke. Andere Dichter verknüpfen den Verfall mit dem Thema des Wahnsinns, wie Georg Heym in Die Irren. In Umbra Vitae stellt Heym eindringlich dar, wie Selbstmördern schon vor ihrem Sprung in den Tod die Haare ausfallen.
Mehrere Dichter ließen sich von Artur Rimbauds Gedicht Ophelia beeinflussen, das eine Wasserleiche beschreibt, wie Heym in Die Tote im Wasser oder eben Gottfried Benn in Schöne Jugend. Benn wurde von Heyms Ophelia-Bearbeitungen inspiriert, in denen sich auch die Motive der Wasserleiche und der Ratten finden.
Inhaltlich richtet der Sprecher den Blick auf eine Wasserleiche, die am Ufer obduziert wird. In der Leiche werden Ratten gefunden, die sich vom Körper ernährt hatten und abschließend im Wasser ertränkt werden.
Die äußere Form ist im Gegensatz zu anderen expressionistischen Gedichten sehr ungebunden: Das Gedicht besteht aus einer einzigen Strophe mit 12 Versen und ist im Reihungsstil1 verfasst, der häufig im Expressionismus vorkam. Es gibt keinen einheitlichen Rhythmus und kein regelmäßiges Reimschema. Das lyrische Ich äußert sich in einem neutralen ‚man‘. Der Text enthält ein paar stilistische Mittel wie Enjambements2 (V. 4-5, V. 8-9), Personifizierungen (V. 6, V. 9), eine Verdinglichung (V. 2) und Metaphern3 (V. 4, V. 9).
Der erste Vers beschreibt in Form eines Pars pro toto den Mund eines Mädchens, das tot im Schilf gefunden wurde. Der Mund sieht „angeknabbert“ (V. 2) aus, wodurch das Mädchen verdinglicht wird, weil man mit dem Begriff eher einen Keks oder ein Stück Kuchen, aber nicht einen Mund verbindet. Durch dieses Wort gerät der Leser das erste Mal ins Stutzen und merkt, dass der Titel ihn möglicherweise zu einer anderen Leseerwartung verleitet hat. Der angeknabberte Mund erweckt aber auch Neugier und man fragt sich, was wohl passiert sein mag. Benn erzeugt also gleich in den ersten zwei Versen paradoxe Empfindungen: Interesse und Ekel.
In dem dritten Vers geht Benn schonungslos zur Obduktion der Leiche über, die direkt am Fundort, also am Ufer, durchgeführt wird: „Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig“ (V. 3). Der Sprecher verwendet durchgehend das Pronomen ‚man‘, das der Beschreibung einen sachlichen Ton verleiht. Man könnte in diesem Vers auch davon ausgehen, einen Obduktionsbericht vor sich zu haben. Im weiteren Textverlauf wird der gesamte Körper untersucht. Nach der Brust richtet sich der Blick auf die Speiseröhre, das Zwerchfell, die Leber und Niere.
In dem vierten Vers verbindet der Sprecher die sachliche Schilderung mit einer lyrischen Wendung: „Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell“ (V. 4) wird ein Rattennest gefunden. Die Laube steht metaphorisch für einen Bereich des Körpers, der den Ratten Zuflucht bot. Wenn man bedenkt, dass Benn von Heyms Gedicht Die Tote im Wasser beeinflusst war, dessen Wasserleiche schwanger war, kann die Laube für eine Schwangerschaft stehen, was der ganzen Szene einen grauenhaften Zug verleihen würde. Eines der Tiere lebt nicht mehr: „Ein kleines Schwesterchen lag tot“ (V. 6). Das Diminutiv4 ‚Schwesterchen‘ verleiht den Ratten einen menschlichen Zug, wodurch sie der verdinglichten Leiche entgegengesetzt werden. Das Tier, das man traditionell mit Ekel oder Krankheitsübertragungen verbindet, wird verharmlost und verniedlicht. Ein weiterer Kontrast ergibt sich aus der Vergänglichkeit des Menschenlebens und dem Lebensglück der Tiere. Die anderen Ratten lebten von den Innereien des Mädchens und „tranken das kalte Blut“ (V. 8). Die Beschreibung erinnert erneut an Menschen und an ein Festessen, was Benn in dem nächsten Vers steigert: Sie hatten „eine schöne Jugend verlebt“ (V. 9). Die metaphorische Wendung irritiert und schockiert durch das Vorkommen in diesem Kontext und stellt zugleich einen Bezug zum Titel her.
Erst nachdem man das Gedicht gelesen hat, kann man eine Verbindung zwischen Titel und Inhalt herstellen. Beim ersten Lesen des Titels Schöne Jugend erwartet der Leser ein schönes Gedicht, weil man mit den Wörtern positive Gedanken verbindet. Der Titel verleiht dem Text einen ironischen Zug, weil er sich nicht auf das Mädchen bezieht, wie man erwarten könnte, sondern auf die Ratten, denen das Mädchen als Behausung und Nahrung dient. Der Titel wurde also mit Bedacht gewählt und steht in Kontrast zum Inhalt, wodurch die Lesererwartung mehrfach desillusioniert wird. Durch die Diskrepanz5 zwischen Titel und Inhalt verhöhnt der Autor in grotesker Weise die Klischees der pseudoromantischen Epigonaldichtung und erzeugt beim Leser Schockierung und Ekel, wodurch er die Wirkung seines Werkes steigert.
Der Sprecher scheint in seiner Beschreibung der Leiche gegenüber völlig distanziert zu sein. Er schildert nacheinander die verschiedenen Regionen des Körpers, ohne Gefühle oder Betroffenheit zu zeigen. Im Gegensatz zur Lesererwartung äußert er kein Interesse am Mädchen oder an der Todesursache, sondern betrachtet sie nur als medizinisches Phänomen, was durch die sachliche Sprache unterstrichen wird. Seine Beschreibung kontrastiert mit der Wirkung des Textes beim Leser. Der Leser wird also nicht nur inhaltlich abgestoßen, sondern auch durch die Gefühlskälte des Sprechers, die zum Abschluss ihren Höhepunkt erreicht.
Die letzten Verse schildern den Tod der Ratten, die ins Wasser geworfen werden und ertrinken. Sie sterben bezeichnenderweise den gleichen Tod wie das Mädchen, wodurch Mensch und Tier erneut gleichgestellt werden. Die Abgebrühtheit des Erzählers steigert sich, als er sich in dem letzten Vers fasziniert an den Todesschreien der Ratten ergötzt: „Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!“ (V. 12). Im Verlauf des Gedichts kann der Leser die Kälte des Sprechers darauf zurückführen, dass es sich wohl um einen Arzt handelt, der es gewohnt ist, Obduktionen durchzuführen und diese dementsprechend sachlich schildert. Aber in den letzten Versen deutet seine einzige Gefühlsregung auf einen perversen Charakter hin, was das Ende besonders abstoßend wirken lässt. Durch das Quietschen der Ratten wird zum Abschluss auch auf der lautlichen Ebene Ekel erzeugt.
Die Form, der Inhalt und die Sprache sind nicht traditionell. Benn schildert wie in Kleine Aster schonungslos die Sektion einer Leiche. Das Gedicht klingt durch die nüchterne Sprache und die Verwendung von medizinischen Begriffen passend zur Obduktion wie ein Bericht, den man in Versform verfasst hat. Benn hat die Wörter nicht wahllos gewählt hat, denn die Sprache klingt trotz allem sehr lyrisch, wie in den Versen 4 und 9, wobei der sachliche Ton überwiegt.
Benn schafft immer wieder Kontraste und eine abstoßende Wirkung, indem er Wörter in unerwarteten Zusammenhängen verwendet. Den Mund verbindet er mit dem Wort ‚angeknabbert‘, während die Ratten eine schöne Jugend verlebt haben. Das Adjektiv ‚schön‘ wird durch den Kontrast zwischen Titel und Inhalt und durch den Satz „Und schön und schnell kam auch der Tod“ (V. 10) entwertet. Benn löst das Wort aus seinem herkömmlichen Kontext und rückt es in einen hässlichen Zusammenhang, wodurch er Schönes mit Hässlichem verschränkt und die Verbrauchtheit und Sinnentleerung der alten poetischen Sprache kritisiert. Dabei deckt er auch Fragwürdigkeiten im Verhältnis zwischen Wort und Wirklichkeit auf.
Das Wasserleichenmotiv geht auf Shakespeares Figur Ophelia aus Hamlet zurück. Nachdem Ophelias Geliebter ihren Vater ermordet hat, wird sie wahnsinnig und ertränkt sich. In Schöne Jugend handelt es sich um kein bestimmtes Mädchen. Ob sie sich umgebracht hat oder ermordet wurde, bleibt ungeklärt. Es geht Benn nicht um die Frage nach der Todesursache, sondern um die schonungslose Darstellung des Hässlichen. Die Wasserratten finden sich auch in Heyms Bearbeitungen des Motivs. Bei Benn wird das Rattenmotiv zentriert und das Auffinden des Rattennestes stellt den Höhepunkt dar. Im Text findet sich durchgehend eine Gleichstellung von Mensch und Tier oder zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, was für viele befremdlich wirkt. Benn schildert die Wasserleiche aus Sicht eines Pathologen, der seine Arbeit verrichtet. Man merkt, dass Benn Mediziner war und nebenbei Gedichte schrieb. Er mischt die Bereiche Medizin und Lyrik, wie auch in Kleine Aster und Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke. Die Ophelia-Thematik wurde in der Vergangenheit geheimnisvoll, ästhetisch, tragisch oder friedlich dargestellt, während Benn mit seiner nüchternen Darstellung schockiert. Heyms Text Die Tote im Wasser erzeugt eine groteske6 Wirkung. Die expressionistischen Bearbeitungen des Ophelia-Motivs wirken eher wie eine Parodie.
Benn bricht in Schöne Jugend provokativ mit den traditionellen Vorstellungen und konfrontiert sie mit neuen Motiven, wodurch er die bürgerliche Ästhetik kritisiert und ablehnt. Er unterstreicht die Vergänglichkeit und Banalität des menschlichen Lebens, wodurch er scheinbar aufzeigen möchte, dass das Hässliche zum Leben und somit auch zur Lyrik gehört. Dieses Gedicht erzeugt in jedem Fall Ekel beim (bürgerlichen) Leser und bringt ihn dazu, sich mit diesen Themen auseinander zu setzen.